Samstag, 30. April 2011

Expertokratie oder Generalisten-MdB ?

Der Autor ringt geraume Zeit mit dem Erscheinungsbild der FDP-Bundestagsfraktion - es mag einer Minderheit von 97% der Bundesbürger ähnlich gehen. Eine Frage, die man sich dabei stellen kann, ist wie die FDP-Bundestagsfraktion sich und ihre parlamentarische Arbeit organisiert.

Die aktuelle FDP-Fraktion ist erstmals in der schönen Lage, dass sie die gesamte Arbeit nicht nur auf eine Handvoll Abgeordneten, sondern auf insgesamt 93 Köpfe verteilen kann, so wie die gesamte Arbeit der Koalition auf rund 300 Köpfe verteilt wird. Diese Abgeordneten repräsentieren die 82 Mio. Bundesbürger mit allen Themen, allen Problemen, allen Bedürfnissen und allen Wünschen, allen Träumen, allen Forderungen, gegenüber allen Behörden aller Ebenen. Also haben die Abgeordneten so gut wie nichts zu tun, könnte man meinen: Was wie entschieden werden muss, dass entscheidet die Kanzlerin und CDU-Chefin nach Einflüsterung ihrer Handvoll engsten "Berater". Die tausende Köpfe umfassende herrschende Exekutive erstellt die notwendigen und für sie wünschenswerten Gesetzesvorlagen selbst oder mit Hilfe interessierter "Kanzleien" und die Parlamentarier nicken es ab. Der Bundespräsident hat abzuzeichnen. Fertig ist das "Rettungspaket". Wofür brauchen wir also noch ein Parlament und 600 Abgeordnete?

Wie wird man Kandidat auf einer Landes-Listenposition einer Partei?
Fachliche Kompetenz in seinem erlernten oder studierten Beruf gehört wohl eher nicht dazu. Das real existierende Wahlsystem fordert und fördert NICHT die Fachleute in den wichtigsten Themen, die für die Gegenwart und die Zukunft unseres Landes und aller Bürger wichtig sind. Wir haben kaum Straßenbau-Experten, wenige Ärzte, aber sehr viele Juristen, Beamten und Lehrer aufgestellt. Weder in Bundestag noch Bundesregierung gibt es Expertokratie der führenden Experten für die wichtigsten Themen. Die einzigen Experten sitzen in der Bürokratie (Eigeninteresse2) und bei den Lobby-Verbänden (Eigeninteresse3).

Die Abgeordneten mögen sich vielleicht selbständig und freiwillig als Fraktionssprecher zu einem Thema gemeldet haben. Von einem Wettkampf, einer Auswahl, einer Beurteilung nach fachlichen Gesichtpunkten, (Vor-)Wissen habe ich noch nie gehört (was ja nicht heisst, dass es sowas nicht geben könnte!). Eher hört man aber von ganz einfachen "Entscheidungen" und Vorschlägen, die der Fraktionsmeute gemacht werden: Junge Leute bekommen eher die "Jugendpolitik, denn Du bist ja jung", Frauen die Frauenpolitik "das passt ja". Juristen können bekanntlich alles und sind deshalb sich für nichts zu schade.

Was machen jetzt die 92 Abgeordneten, die NICHT offizieller Sprecher in der Angelegenheit XYZ sind. Sie stimmen ab, wie der Fraktionssprecher es vorschlägt oder die Fraktionschefin oder der Bundesvorsitzende befiehlt, denn sie haben ja schon mal gar keine Ahnung von kaum etwas der vielen, wichtigen Themen, die ihnen wohl oder übel zur "Entscheidung" vorgelegt werden.

Somit hat es im Parlament für jede Partei genau
  • EINEN Sprecher für Jugend(-Probleme, Wünsche, Forderungen, Ministerien),
  • EINE Sprecherin für Frauenfragen, 
  • EINEN für Verteidigung, 
  • EINEN für Finanzen
  • EINEN für Innenpolitik
  • usw ...
Manchmal macht also jeweils ein Abgeordneter auch Sprecher für mehrere Themen, z.B. Sport, Verbraucherschutz, Bananen- und Gurkenkrümmung, ...
Diese Partei"sprecher" setzen sich dann in Bundestagsausschüssen zusammen und streiten über ihre "Fachthemen" untereinander und mit der Bürokratie und den eigentlichen Fachleuten. Die Koalitionsmehrheit entscheidet dann, was sie will und wie sie es will. (Bekanntlich hat die Mehrheit lediglich die Mehrheit, sie hat nicht unbedingt recht!). Also gibt es letztlich nur zwei Positionen in jedem Thema, das der Koalition und das der Opposition. Wozu brauchen wir denn dann 600 Abgeordnete?

Wäre es anders, dann würden sich die 93 Abgeordneten, die in jahrelanger Kärnerzeit gelernt haben, Prioritäten zu sehen, Wichtiges von Unwichtigerem zu trennen, mit und zu Leuten zu sprechen, (Fach-)Leuten zuzuhören, verschiedene, gegenläufige Interessen nach Machtverteilung und Zukunfsaussichten einzuschätzen und abzuwiegen - als "Generalisten" bezeichnet. Sie könnten sich regelmäßig treffen, um die anstehenden (un-)geplanten, aktuellen Themen zu gewichten und auf vielleicht zwei oder drei Gruppen zu verteilen, die in Konkurrenz zueinander eine GRUPPENposition erarbeiten und dann zu einer Koalitionsmeinung aggregieren, indem sie die Kontakte, das Wissen und auch die "Weisheit der vielen" Abgeordneten nutzen. Dies könnte man natürlich auch mit dem Koalitionspartner gemeinsam tun. Diese breit abgestimmten Arbeitsergebnisse kann der SPRECHER dann für die Koalition im Plenum vortragen. Der Sprecher wäre dann der geeignete und dafür qualifizierte Präsentator der gerade erzielten Ergebnisse der Fraktion(en). Er müsste sich nicht die Arbeitsergebnisse alleine aus den Fingern saugen, die Informationen wären breit gestreut, die Bedenken, Wünsche, Ideen vieler Abgeordneter würden einfließen, es würden entsprechende Unterlagen oder Präsentationen vorhanden sein, die man gegebenenfalls auch den jeweiligen Parteimitgliedern und auch der Öffentlichkeit (via Internet) überlassen kann. Auch die früher allmächtige, aber übelmeinende Presse könnte sich dort bedienen und zu ihrer eigentlichen Aufgabe der journalistischen Aufbereitung und Einordnung zurückkehren, weniger dem populistischen Sensationsjournalismus huldigen. Wäre es anders.

Update1:
Man möchte die Situation der Bürger-Abgeordneten mit der Situation der vertretenen Bürger vergleichen: Jeder "Normalo" steht vor den gleichen Problemen, dass er/sie Entscheidungen treffen soll/muss, für die er/sie nicht ausgebildet, nicht qualifiziert ist. Auch wir Bürger müssen Entscheidungen wie z.B. welches nächste Auto treffen, wir kaufen ein Haus oder entscheiden uns selbst Bauherr zu werden, ob wir noch ein Kind haben wollen oder nicht. Dies alles sind wichtige Entscheidungen mit jahrelangen Auswirkungen, sie betreffen uns selbst, unsere Familie, machmal auch andere. Wir Bürger erkundigen uns im Familienkreis, bei den Freunden, bei Leuten, die vor der gleichen Entscheidung standen. Wir surfen im Internet, fragen bei der Verbraucherberatung. Wir treffen unsere Entscheidungen und leben mit den Vorteilen und den Fehlern. Uns Bürgern stehen keine Mitarbeiter, kein Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, keine Lobby-Experten zur Verfügung, aber wir wursteln uns so durch. Wir sind Generalisten in fast allen Fragen. Die Bürger-Abgeordneten waren es in ihrem unpolitischen Leben doch vorher auch. Wir Bürger wissen, dass wir nicht alles können (, auch wenn es z.B. Obi gibt). Wir Bürger wissen doch, dass wir selbst nicht alles wissen.

Jetzt kommen den (frisch gewählten, jungen, lebensunerfahreneren?) Abgeordneten Fragen mit weitaus größeren Auswirkungen auf den Tisch. Jetzt geht es um Millionen Menschen, um Milliarden Werte, um jahrzehntelange Auswirkungen. Nicht nur einmal, sondern öfters, eigentlich ständig. Jemand kommt "um die Kurve" und verlangt eine ENTSCHEIDUNG, die riesige Folgen hat.
  • Woher kommt dann der Irrglaube, dass diese Abgeordnete plötzlich und wunderbarerweise genügend "Experten" seien, und mehr als 50% zufällig richtige Entscheidungen in komplexesten politischen Fällen treffen KÖNNEN?
  • Welcher der Abgeordneten hat damit angefangen, sich für ALLwissend, für ALLmächtig zu halten? 
  • Wo ist die von Dr. Westerwelle im September 2009 erwähnte DEMUT geblieben? 
  • Wo ist das politische Vertrauen in die Bürger und den von Liberalen so geschätzten Markt geblieben, der fast alle Probleme auf ideale Weise und mit geringsten Aufwand am richtigen Ort zu lösen vermag. 
  • Wer erinnert sich noch an Bastiats Worte: "Was man sieht und was man nicht sieht" und hat den Mut sich selbst für so weise zu halten?
  • Wo ist der FDP-Abgeordnete, der sagt: Das MUSS ich nicht entscheiden, weil das die Bürger selbst können.

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